Ein Interview mit Thomas Neuhoff, Künstlerischer Leiter des Bach-Vereins Köln

Die Trauerfeierlichkeiten für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen am 23. und 24. März 1729 sind genau dokumentiert: Von der Anzahl der Fackeln und Lakaien bis hin zum Speiseplan des Leichenschmauses. Von der Kantate Klagt, Kinder, klagt es aller Welt oder auch Köthener Trauermusik, die Johann Sebastian Bach extra dafür komponiert hat, existiert allerdings keine vollständige Überlieferung. Die Partitur ist wohl für immer verloren, nur der Text von Picander ist erhalten.

Thomas Neuhoff, für Ihre Aufführung der „Köthener Trauermusik“ haben Sie sich für die Rekonstruktion von Alexander Grychtolik, als eine von drei Bearbeitungen, entschieden – warum?

Neuhoff Die Version ist sehr zugänglich, da sie bei Edition Peters erschienen ist. Dagegen habe ich die Rekonstruktion von Andrew Parrott auf dem Markt nur als Einspielung und nicht als Notenmaterial gefunden. Und die Bearbeitung von Morgan Jourdain, die Raphaël Pichon für seine Aufnahme verwendet hat, finde ich nicht in allen Punkten überzeugend.

Grychtolik bezieht sich stark auf die Forschungsergebnisse von Musikwissenschaftler Detlef Gojowy…

Ja, Gojowy hat durch Textanalysen nachgewiesen, dass eine enge Beziehung zwischen der Köthener Trauermusik und der zeitgleich entstandenen Matthäus-Passion besteht. Die Trauermusiktexte passen teilweise so gut zu den Arien aus der Passion, dass man gar nicht weiß, für welchen Zweck sie zuerst komponiert und für welchen sie dann parodiert, das heißt wiederverwendet wurden. Auch bei den Rezitativen hat Gojowy Vorschläge gemacht, die Grychtolik dazu inspirierten, fünf von insgesamt neun Rezitativen direkt aus Motiven aus der Matthäus-Passionzu bilden. Die Sprachuntersuchungen von Gojowy haben gezeigt, dass das funktionieren kann – von der Trauermusik ist ja kein musikalisches Material erhalten. Bei vier Rezitativen konnte Gojowy allerdings überhaupt keinen metrischen Bezug zur Matthäus-Passion feststellen, deshalb hat Grychtolik diese Rezitative ganz neu komponiert. Da er sich dabei des Idioms von Bach bedient, fallen diese Rezitative stilistisch und musikalisch überhaupt nicht aus dem Rahmen. Diese sehr einheitliche Ausgabe hat mich am meisten überzeugt. Sie ist historisch sehr gut recherchiert und wir können uns vorstellen, dass das Original von Bach ganz ähnlich gewesen ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Das Stück, das die zweite Abteilung eröffnet und beschließt, also der Psalm-Text, über den im Trauergottesdienst gepredigt wurde: „Wir haben einen Gott, der da hilft und einen Herrn, der vom Tod errettet.“ Jourdain greift hier auf von Bach erst später komponierte Musik zurück, das zweite Kyrie der Missa von 1733, also der Urfassung der h-Moll-Messe (BWV 232), während Grychtolik den Eingangssatz der schon 1727 komponierten Trauerode für die Fürstin Christiane Eberhardine (BWV 198) verwendet. Das finde ich überzeugender.

Alexander Grychtolik hat seine Version unter harmonia mundi mit nur neun Sängern und solistisch besetztem Instrumentalensemble eingespielt. Wie wird das bei Ihrer Aufführung sein und wie war die „Köthener Trauermusik“ zu Bachs Zeiten besetzt?
Wir führen das Werk in einer Kammerchor-Besetzung mit ungefähr dreißig Personen auf. Bach selber hat das wahrscheinlich mit circa einem Dutzend an Sängern gemacht, das war eine sehr kleine Crew. Das Werk ist sehr üppig orchestriert und wir spielen es auch mit mehrfach besetzten Streichern.

Haben Sie die „Köthener Trauermusik“ schon einmal aufgeführt?

Nein, ich habe die erwähnte Trauerode Laß Fürstin, laß noch einen Strahl für die Fürstin Christiane Eberhardine (BWV 198) mit dem Bach-Verein aufgeführt, auch die Markus-Passion, die wiederum eine Parodie der Trauerode ist. Die Köthener Trauermusik führe ich aber zum ersten Mal auf. Ich finde es spannend, mich ganz neu mit Musik zu befassen, die ich als Matthäus-Passion oder Trauerode schon sehr lange kenne.

Wie laufen die Probenarbeiten?

Wir hatten anfangs Leseschwierigkeiten. Denn wir singen diese Stücke quasi auswendig, wenn sie Matthäus-Passion heißen. Plötzlich steht aber nun in Noten Die Augen sehen nach deiner Leiche statt Wir setzen uns mit Tränen nieder – das geht viel schwerer von der Zunge. Die Hauptarbeit für den Chor liegt darin, den neuen, teilweise sehr blumigen Text von Picander, der sich uns heute nicht mehr so leicht erschließt, mit guter Artikulation und überzeugend rüberzubringen. Die Solisten haben zwar alle viel Erfahrung mit der Matthäus-Passion, haben aber die Köthener Trauermusik auch noch nicht gesungen. Das ist schon spannend, wenn beispielsweise die Altistin nun eine Musik singt, die in der Matthäus-Passion dem Bass zugeordnet ist: „Gerne will ich mich bequemen“ wird in der Trauermusik zu „Wird auch gleich nach tausend Zähren“. Das wird bestimmt eine interessante Erfahrung, für Zuhörer und Ausführende.